Mittwoch, 27. Dezember 2017

jahresende

ein paar versprengte hunde auf der fahrbahn
tröstlich leuchtet eine tankstelle im nieselregen
und vom wald her mit zunehmender dämmerung
die frohe botschaft der raketen:

der kreis hat sich geschlossen
du darfst neu beginnen

thora engel
31/12/09

samstag im büro

(hommage an meine alma mater)

dach der dächer, universitas, so leer
fegt der sommer deine gänge.
nur vom lichthof dringen folgenschwer
akademische gesänge

und verstummen.
schwalben sich von ferne nahn;
über minervas kühlem brunnen
zieht ein flieger seine bahn,

warmer wind fährt durch die bäume,
wo die sonne in das fenster blickt;
weit eröffnet sind des denkens räume,
hemmnis, schwere fortgeschickt –

schreibe, schreibe, eh das blatt sich wendet,
nach uns werden andre kommen;
und hoffe nicht, dass einst vollendet
wird das werk, das wir begonnen.

thora engel
2011

hochzeit

der schmerz verfängt sich
im abendrot
helikopter schwarz und rauh
ziehen himmelskreise
über beton und stahl
viel papier kam in den
müll und leise
weint die braut

rauher stahl rötet sich
bräutigams-
schwarz in helikoptischer stille
kreist der abend
und papiernen tränen gleich
fällt vom himmel
schmerzlich betonierter
wolkenmüll


thora engel
17/05/08

ernte

herbst
kommt
bringt reichlich
gedenken
der saat die
aufging
auf den feldern
der jugend

wie
jedes jahr
geht ernte
voraus
der saat
die auszusähen
man
vergaß

thora engel
26/10/05

woolworth

wir haben viel zu lang gelebt
über versicherungen gequatscht und so weiter
es hat natürlich nichts gebracht
der teich ist zugefroren
morgens sah ich ihn und abends
zweimal am selben tag
die leute in der stadt waren sehr beschäftigt
mit einkaufen
ich hab an dich gedacht
ich kam mir vor wie ein pferd
ein pferd mit cowboyhut
das bei woolworth an der kasse ansteht

thora engel
24/11/05

an heidegger und seinen lehrer

auf die schulter des seins gestützt
bin ich dasein ich da
kehre kehrt mich aus vor der zeit
seinsglaube – klammert mich ein

thora engel
16/01/03


oktober

wer hat dich je beschworen und besungen
wie deinen jüngern bruder den september?
für ihn hat oft man seinen stift geschwungen;
und nun folgt bald schon der november.

in deiner sonne klarheit sitzt zeitungen
lesend das volk, die kinder füttern schwäne,
dein hoher blauer himmel hat verschlungen
die wolken und der fische häme

die obgleich stumm aus niederungen
mit süffisantem blubbern uns bedenken.
viel ging’s zuletzt um erwartungen
die man erfüllen soll; auf bänken

haben zerbogen wir uns unsre zungen
bis zum abend der so früh nun einbricht.
das rechte wort zu finden ist gelungen
auch den kastanienbäumen nicht.

thora engel
08/10/06

mein unbewusstes und ich

wo du bist
bin ich auch
wo ich bin
bist auch du
wir sind nicht
dasselbe
und treffen uns doch
immerzu

thora engel
24/11/05

Montag, 11. Dezember 2017

einer

einer
der einen kuss
in meinen nacken haucht
unerwartet
und beiläufig
mein haar lüftet
für diesen diskreten
zweck

einer
der seine hand
um meine taille legt
dann und wann
warm
und vertraut
über meine wangen streicht
die sich für immer
darin vergraben
wollen

einer
der einen stein
aus meinem rucksack nimmt
und eine blüte statt dessen
hineinlegt
eine zarte duftende
und leicht wie ein
traum

einer
der meinen namen kennt
und nicht vergißt

einer
mit dem ich tanzen kann
und singen und springen
in den sternfeldern der
zeit

einer
der zu mir sagt
du gehörst zu mir
und zu anderen dasselbe sagt
sie gehört zu mir
einer der wir sagt
zu uns

einer
der immer da ist
auch wenn er nicht da ist

einer
nur einer
der mich liebt

wäre schon genug

thora engel
12/03/16

tabula rasa

Für E.
ich habe alles abgelegt:
den alltagshabit
die geschichte
den täglichen zwang
jemand zu sein

ich habe alles abgelegt
und an den nagel der erinnerung gehängt
ich habe postkarten geschrieben
aus der ferne in die ferne
ich war gerade so
vielen sehr nah

ich habe ganz neu angefangen
man hat mich nicht erkannt
es schien mir selbst
verfehlt
noch ‚ich‘ zu mir zu sagen
ich wußte nicht
was das heißen soll:
‚ich‘

es hat aber funktioniert
es funktioniert immer noch
ich bewege mich schwebend
über und zwischen
den dingen
und menschen
die schweigend mich grüßen
ohne mich festzulegen

dankbar grüße ich zurück

es tut so gut
niemand zu sein

thora engel
07/08/14

herz im kühlschrank

der
den ich geliebt
einst
wandelt unter den schneemännern
ich sah ihn
gestern
mit roter pappnase
auf weißem eis

der
den ich geliebt
einst
trägt heute schlittschuhe
ich höre ihn
kecke kreise kratzen
nacht um nacht
auf gefrornen tränenseen

der
den ich geliebt
einst
schläft mit narrenkappe
schnarcht 
in meine fingerknochen
und hält sein herz warm
im handschuh

der
den ich geliebt
einst
vergaß sein herz
im kühlschrank
und meins
dazu

thora engel
15/11/96

missverständnis

ich sehe den blättern
beim rotwerden zu.
wie ist der herbst?
fragt man,
als ich weinend am fenster steh.
herb, sag ich,
(wobei ich ein schmunzeln nicht unterdrücken kann)
und verträumt.
was hat er denn geträumt?
den sommer.

ich wollt ein gedicht schreiben
über den blätterbestreuten
grünen krankenhausrasen
und die letzten rosen
rot und einsam im kahlen beet,
das so rechteckig sich hinstreckte
wie ein sarg.
und darüber blau und deutlich
hörbar der himmel,
wenn der wind die wolken
einmal kurz
auseinanderriß.

doch verstand man mich falsch.
vom sommer, verstand man,
vom sommer.
als wäre dieser mehr
als eine Phantasie 
eines unter meinem auge
sich rötenden
blattes.
und mein auge
nur
ein sinnesorgan.

thora engel
11/10/03

reise

woher wohin
wer weiß schon wer
und wo
ich bin

schwer
der reise ende
nicht beginn
woher wo-

hin

thora engel
13/09/01

was ist der mensch?

was ist der mensch? 
ein feuchtes zittern in der scham,
ein klammes kaltes wachen bis der morgen graut.
gleich schleusen nehmen wir es alles wie es kam
und gleiten träge mit den fingerspitzen –
über das eis der eignen haut.

was ist der mensch? 
von schnee ganz weiß sind alle brücken,
da wo der reichen häuser den kanal umstehn.
zwanzig männer boßeln still auf seinem rücken,
der lang und schnurgerade ist –
sein ende nicht zu sehn.

was ist der mensch? 
vergeblich alle ziele,
die nicht mit leiber druck und liebe sind geeicht,
verloren alle proben, alle spiele,
die wir nicht blind gewinnen –
den kindern gleich.

thora engel
12/01/03


alto adige

wo die äpfel blühen
ohne mühen
weil die sonne
wie geronne-
nes gold über den wiesen liegt
der frühling immer siegt
auf den hohen gipfeln schnee
doch winter adé
sobald wir die autobahn
hinterm brenner ins tal hinabfahrn

alto adige:
lieblicher duft
jasmingeschwängerte luft
türmchen und gässchen
espressotässchen…
und vorm schloss
hoch zu ross
eine tiroler braut –
wartend 
ungetraut

thora engel
07/05/13

Dienstag, 5. Dezember 2017

mikrologie des seins

unter dem mikroskop meiner worte
hören die dinge auf dinge zu sein
formen verlieren ihre konturen
was fest schien wird weich
das ruhige gerät in bewegung
das ferne rückt nah
so nah
dass es fast
nicht mehr zu sehen ist

als kinder verlassen wir uns
auf den augenschein
später lernen wir
dass es mehr zu sehen gibt
als was das bloße
auge zeigt
man muss nur das sehorgan
aufrüsten
dann geht es besser

und doch

nie gut genug
da ist immer noch etwas
übrig
das dem mikroskopischen blick
entschlüpft
ein unsichtbares
das sich nach sichtbarkeit sehnt
ein unerkanntes
das erkannt werden will

wir jagen ihm nach
mit schärferen brillen
wir suchen es in den ritzen
zwischen den pixeln unserer hochaufgelösten
aufnahmen des wirklichen
wir spekulieren
es müsse doch eines tages
kollidieren
mit unseren hypersensiblen sensoren

je mehr wir sehen
desto mehr sehen wir nicht
zutraulich
und abweisend zugleich
ist die mikrologie des seins
thora engel
05/07/17



Thora Engel reads "mikrologie des seins" ("micrology of being") at the EAM Science meets Fiction exhibition, 28 September 2017, Erlangen, Germany


europa

europa
kam nicht von hier
sie kam
aus dem terrorgebiet
verschleppt
von zu hause
nichtsahnend
im spiel
lügen erlegen
von liebe und freiheit
ward sie
an land gespült

man brachte sie fort
man hat sie missbraucht
und schließlich
zur königin gemacht
auf ihrem thron aus glas
flicht sie den kranz der
erinnerung
sie hat sich nie beschwert
sie wollte doch immer nur
dass es allen gut geht
und alle sich
wie zu hause fühlen
thora engel
28/06/16

Napa

For C.A.B.

im buschfeuer der verzweiflung
brennen die gerippe unserer liebe
ich schenkte dir
reinen wein ein
den hast du
verschüttet zwischen
glutnestern der eifersucht
rot rinnt das blut der herzen
hinab ins ausgedörrte valley
der tod kam über nacht
es gibt keine rückkehr
die verkohlte hoffnung
bebt unerhört
in der spürhunde gebell


burning in wildfires of despair
is the skeleton of our love
i poured you
the wine of truth
which you then spilt
over embers of jealousy
from our hearts down the dry valley
red running of blood
death came overnight
there is no return
charred hope
trembles unheard
at the sniffer dog’s barking

thora engel
16/10/17

who i am

as a child i wished to be called lydia
that sounds so lyrical
and lyrical sounds like
spherical singing
clinking icefields
crystal creeks of tears
and a sky made of steel

as a child i wished to be an angel

pick flowers in the garden of eden
have a coffee with adam
possibly also with eva
do errands for the almighty
do not feel any pain
and do good
to the poor humankind

at least i wished for an angel
to rescue me

this did not happen

sadly
they forgot me
down here

but i won’t give up

my heart is a shrine

everything fits in there
and nothing ever falls out

thora engel
22/09/17

jahresende

ein paar versprengte hunde auf der fahrbahn tröstlich leuchtet eine tankstelle im nieselregen und vom wald her mit zunehmender dämmerun...